Von der Selbsterfahrung zur Gestaltung des Selbst

Die Tage ist mir ein Artikel von Eva Tenzer mit dem Titel: "Von der Couch zum Coach-Beratung für alle Lebenslagen" in die Hände gefallen. Er befindet sich in dem "Psychologie Heute compakt"-Heft Nummer 21, das Anfang dieses Jahres erschienen ist und den Titel trägt:"Hilfe für die Seele - Was Psychotherapie leisten kann". Zum einen habe ich beim Lesen des Artikels gelernt, dass mir in meinem Alter (54 Jahre) eine "late-life-crisis" droht. Irgendwie gut, endlich einen passenden Begriff dafür zu besitzen, was sich wie eine "Midlife crisis" anfühlt,aber bei meinem fortgeschrittenen Alter keine sein kann. Es sei denn, ich würde deutlich über 100 Jahre alt werden.

 

Das ist aber nicht der Grund, weshalb ich in dem dieswöchigen Blog auf diesen Artikel hinweisen möchte. Thema des Beitrags von Frau Tenzer ist meines Erachtens nach die Veränderung, die die Erwartung an psychotherapeutische Arbeit von den siebziger Jahren bis heute erfahren hat. Damals ging es darum, sich selbst zu finden. Wer sich auf diesen Weg zu begeben beabsichtigte, musste sich dazu zwischen unzähligen "Königswegen" entscheiden. Diese reichten von der Selbsthilfe, wie sie in Selbsterfahrungsgruppen praktiziert wurde bis hin zu von Experten vermittelten Techniken der Selbstversenkung, wie zum Beispiel die verschiedenen Formen der  Meditation. All diesen Wegen gemeinsam war die Idee, dass es in uns etwas gibt, das darauf wartet,mit entsprechenden Psychotechniken aus dem Dunkeln des Unbewussten in das Licht des Bewusstseins treten zu können.

 

Psychotherapie war in dieser Zeit in aller Munde, jedoch der Zugang im Vergleich zu heute noch recht umständlich und oftmals kostspielig. Es gab Selbsterfahrungs-Wochenenden und Marathon-Gruppen-Therapien, weit abgeschieden von der Welt auf einer einsamen Berghütte. Egal welchen Weg man damals einschlug, es ging, zumindest erklärtermaßen, immer darum, Zugang zu seinem inneren "Ich" zu finden. Ein Extrembeispiel ist die bekannte Encounter-Gruppe, wie sie von Carl Rogers, dem Begründer der Gesprächstherapien propagiert wurde. In derartigen Gruppen war er selbst zwar zugegen, hat sich aber so weit wie möglich mit den Prozess steuernden Interventionen zurückgehalten, aus der Überzeugung heraus, dass jeder Mensch selber am besten weiß, was für ihn gut und richtig ist. Häufig ist ihm dies jedoch nicht bewusst, weshalb es erst eine geeignete Atmosphäre braucht, um die Weisheit unseres Inneren uns bewusst und damit im Alltag anwendbar werden zu lassen. Die moderne medizinische Hypnose, wie sie von Milton Erickson entwickelt worden ist, hat diesen Gedanken konsequent weiterentwickelt und stellt eine Reihe von Techniken zur Verfügung, möglichst effektiv an die Arbeit zu gehen, um den "Inneren Heiler", unser Unbewusstes,  zu Wort kommen zu lassen.

 

Interessant finde ich vor diesem Hintergrund die in dem Artikel von Frau Eva Tenzer zu findende Einschätzung, dass wir uns jetzt nicht mehr im Zeitalter der Selbstfindung befinden, sondern dass es jetzt stattdessen um ein möglichst optimal gestaltetes Selbst geht. Mit Hilfe eines geeigneten Coachs soll eine Designer-Persönlichkeit geschaffen werden, deren Chancen sich in einer Welt, in der nur der Stärkste gewinnt, verbessern lassen. Ich finde, die Autorin hat da genau den aktuellen Zeitgeist auf den Kopf getroffen: Eine Zeit in der Alles möglich ist, wenn man nur die richtigen Mittel und Wege kennt, das heißt eine möglichst effektive Psychotechnik anzuwenden versteht… und schon wird auch das Unmögliche machbar. Ein solches Retorten-Ich ist mir mindestens genauso unheimlich, wie es ein genmanipuliertes Baby wäre, und ich kann eigentlich nur hoffen, dass die im Bereich des Coachings tätigen Kolleginnen und Kollegen diese Erwartungen nicht noch unterstützen, sondern immer noch, zumindest für sich selbst die Maxime in sich tragen, selber „echt“ zu sein und ihr Gegenüber auf seinem Weg zu einem in sich geschlossenen psychologischen Gesamten zu begleiten, beziehungsweise dazu anzuleiten, diesem Ziel möglichst nahe zu kommen. Es ist absolut in Ordnung der Katalysator für einen Prozess zu sein, der Materie miteinander in Reaktion bringt, die zumindest zum größten Teil aus dem Patienten selbst stammen sollte. In dieser Hinsicht fand ich den Beitrag von Frau Tenzer in dem insgesamt sowohl für Psychotherapiegebende als auch -nehmende äußerst lesenswerten Beitrag in "Psychologie Heute compakt" für mich sehr wichtig. Hat er mir doch wieder einmal bewusst werden lassen, dass ein direktives Vorgehen in der Psychotherapie lediglich die Gestaltung des Ablaufes einer therapeutischen Intervention betreffen sollte, während Ziele und Inhalte der Arbeit auf jeden Fall in den Händen des Klienten bleiben müssen. Auch die auf unserer Internetseite beschriebenen therapeutischen Hilfsmittel wie Entspannungs-CDs oder PC gestützte Selbsterfahrungshilfsmittel sind in diesem Geiste entwickelt worden: Katalysator dafür zu sein, seine persönlichen Ressourcen zu entdecken und nutzen zu lernen.

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